Manifesta 12
The Planetary Garden – Cultivating Coexistence
Sabine Maria Schmidt
Schon Odysseus kam nach Sizilien. Allerdings nicht freiwillig. Seefahrer wie er, Jakob Burckhardt nannte ihn einen Piraten, brachten Kunde von einer großen, fruchtbaren Insel, was über Jahrhunderte Begehrlichkeiten weckte. Für die Sizilianer bedeutete das Meer daher nie Verlockung des Unbekannten, zu oft – von den Griechen bis zu den Amerikanern – hatte die Insel Feinden und Invasoren als Einfallstraße gedient. Vielmehr sei das „Gefühl von Unsicherheit“ der hervorstechendste Zug der „sicilitudine“, charakterisierte Leonardo Sciascia seine Landsleute. Daher rühre nicht zuletzt das „spezielle Verhältnis“ der Sizilianer zum Staat. Von Sizilien aus hatte sich die Mafia weltweit wie eine Seuche verbreitet. Auch das gehört in das psychologische Gemenge der Insulaner, eine Art Kollektivschuld, die nicht verdrängt werden will, auf die man aus Höflichkeit eher nicht direkt ansprechen sollte.
Als Wiege Europas gilt das Mittelmeer. Und kaum ein anderer Ort wie das aus kulturellen Diversitäten geformte Palermo mit seinem historischen Portfolio scheint so geeignet, akute Fragen und Probleme modellhaft zu untersuchen. In Palermo hat die Manifesta wieder ihre Kurve gekriegt. Zum 12. Mal findet die europäische Wanderbiennale statt, die sich dem Zusammenwachsen des in den 1990er Jahren noch sehr jungen europäischen Staatenverbundes aus kultureller Perspektive widmet. Die letzten beiden Ausgaben in St. Petersburg und Zürich führten in ökonomisch potente Metropolen. Opulent erschien es in St. Petersburg mitten in der Ukraine-Krise. „What people do for money“ lautete zwei Jahre später in Zürich das Motto, das allerdings künstlerisch etwas verhaspelt schien und wenig kritisch beantwortet wurde. Künstler sind eben auch nicht bessere Großformat-Kuratoren, die aktuell ja von einigen gerne abgeschafft gesehen werden würden.
In Palermo heißen die Kuratoren des Teams, das sich aus unterschiedlichen Disziplinen zusammensetzt, nun Kreative Mediatoren; was ihre enormen Leistungen nicht schmälern sollte. Das sind neben dem gebürtigen Sizilianer und OMA-Partner Ippolito Pestellini Laparelli die niederländische Filmemacherin und Journalistin Bregtje van der Haak, der spanische Architekt Andrés Jaque und die Kuratorin Mirjam Varadinis vom Kunsthaus Zürich. Die haben sich erst einmal monatelang zwecks Recherche durch die Insel geackert und eine faszinierende Kartographie vorgelegt: den Palermo-Atlas.
„Einen Hang zur Anpassung an das Schlimmste, das sei das Charakteristikum der Palermitaner, die Murphys Gesetz in die Verfassung verankert hätten“; schrieb Roberto Alajmo 2006 in seinem Anti-Reiseführer „Palermo sehen und sterben“. Und er räsoniert weiter: „Palermo sei eine Stadt, in der man Spitzengespräche und Fachtagungen veranstalte, um auf die wichtigsten Fragen der Zeit die schlechteste Antwort zu finden. Wenn etwas schiefgehen kann, wird eine Delegation gebildet, eine Task force organisiert, eine Verstärkung rekrutiert; alles, was möglich ist, um nur ja sicherzustellen, dass dieses Etwas auch wirklich ein schlimmes Ende nimmt.“ Dieses Trauma scheint gut zehn Jahre später überwunden. Wie ein Sirenengesang lockt nun das kultivierte Motto der „Manifesta“ die Reisenden wieder in die Stadt.
Dennoch überschneiden sich viele Analysen des Palermo-Atlas mit den Beobachtungen und thematischen Ansätzen des chaosresistenten Autors und Palermitaners Alajmo. Heute kaum vorstellbar, dass das große Opernhaus und legendäre Theater Massimo, ein Hotspot der Manifesta, über Jahrzehnte nach dem Krieg geschlossen blieb; weil zunächst kein geeigneter Elektriker gefunden werden durfte; um massive Sicherheitsschäden zu beheben. „Dass die Altstadt verrottet ist, sei einer von Korruption und Gewalt geprägten Kultur geschuldet, die einen neuen italienischen Stil ins Leben gerufen habe: den „Stilo incompiuto“, räsoniert Alajmo. Es sind nicht nur derartige Stimmen, die unter I. P. Laparellis Leitung zu einer Kartierung der Millionenstadt auf vielen Ebenen zusammengetragen wurden. Mit seinem Team führte er Hunderte von Gesprächen mit Einwohnern und identifizierte Tausende von Orten, die oft seit Jahrzehnten leer stehen. Der in einen knallrot-gummierten Umschlag gebundene Atlas steckt voller Grafiken, Karten, Bilder und Texte, die die Themenschwerpunkte der Ausstellung und auch die Auswahl der Ausstellungsorte begründen.
Zentrum und Ausstrahlungsort ist das Viertel La Kalsa, das als Metapher bzw. Modell für die gesamte Stadt gelten kann. La Kalsa wurde im Mai 1943 von den Alliierten gründlich zerbombt, eine fatale Zerstörung, denn eigentlich ging es um den Hafen. Nach dem Krieg erlitt die so oft besetzte Stadt eine erneute Plünderung; dieses Mal aus eigenen Reihen. „Sacco di Palermo“ nannte man die beispiellosen, von Korruption geprägten Boden- und Bauspekulationen. Die Trauer über das brutale Niederreißen von in üppigen Gärten gelegenen Wohnbezirken hat Vincenzo Consolo in seinem Roman „Lo Spasimo di Palermo“ (1998) beschrieben. Stattdessen wurden die Bewohner aus der Altstadt in dubiose Neubausiedlungen getrieben. „Zen“ ist so ein Projekt, zu dem Exkursionen angeboten werden. Die Gruppe „Alterazioni Video“ geht den Folgen jahrzehntelanger mafiöser Baupolitik nach. Sinnfällig wird diese Verwahrlosung der Altstadt an zahlreichen Orten, fast wortwörtlich ablesbar am ehemals prachtvollen Palazzo Constatino, direkt bei den Quattro Canti, einem der Ausstellungsorte der Manifesta. Ein großer Baukran im desolat anrenovierten Gebäude ist nie entfernt worden, zu teuer wäre die Aktion. Drinnen gastiert das „Videomobile“ von Mastebo, ganz in Tradition des russisch-avantgardistischen mobilen Kinos, in dem Bewohner zu Wort kommen. Gezeigt werden zudem die Fotografien des Architekten Roberto Collovà, der u.a. die gravierenden Umweltzerstörungen an toxischen Küstenabschnitten ins Bild bringt. In La Kalsa befindet sich auch das Theater Garibaldi, organisatorisches Epizentrum der Manifesta, direkt neben der riesigen Piazza Magione; allesamt Herausforderungen konservatorischer und urbanistischer Gestaltung. In diesem Mafia-geprägten Viertel wurden aber auch Falcone und Borsellino geboren, die als Kinder auf dem riesigen Feld der Piazza Magione Ball gespielt haben sollen.
Über 50 Teilnehmer agieren an 20 Orten. Hinzu kommt ein umfangreiches Programm an kollateralen Ausstellungen, in denen man sich bei den Streifzügen durch die Stadt verlieren kann. Drei Hauptthemen gliedern die Beiträge, die sich an den verschiedenen Orten immer wieder überschneiden: Zunächst die Stadt als Bühne zu zelebrieren, dann die Stadt als metaphorischen Garten zu verstehen, in dem sich aus Disparatem funktionierende Gemeinschaften bilden lassen. Der dritte Themenbereich widmet sich den unkontrollierbaren Räumen im Zeitalter der Digitalisierung, die es zu visualisieren gilt. Hier zählt die Manifesta auf Künstler, die sich auch in den beeindruckend-ruinösen Räumen des Palazzo Ajutamichristo, des Palazzo Butera oder Palazzo Forcella de Seta zu behaupten wissen. James Bridle etwa, der mit „Citizen EX“ die Analyse von Staatenzugehörigkeit über die Internetzugänge visualisiert. Oder Tania Bruguera, die die sizilianische Widerstandsbewegung gegen das amerikanische Satellitenkommunikationssystem MUOS bei Niscemi nachzeichnet. Laura Poitras folgt den Signalen von MUOS, das die Kommandozentralen der US-Streitkräfte drahtlos mit ca. 18.000 militärischen Rechnern weltweit verbindet und die Lenkung und Kontrolle von Drohnen verbessern soll.
Trevor Paglen zeigt Portraits, die für Gesichtserkennungsprogramme gemacht wurden. Das Peng-Collectiv aus Berlin stellt erneut seine Telefonkabine „Call-A-Spy“ zur Verfügung und bietet zahlreiche Telefonnummern von Geheimdiensten an. (Offenbar geht aber keiner ran). Ein zentrales Augenmerk gilt den Flüchtlingsströmen auf dem Mittelmeer. Forensic Oceanography verfolgt quasi live wie NGO’s und Seenot-Retter behindert und kriminalisiert werden. Erkan Özgan zeichnet – allerdings ein wenig zu distanzlos – Stimmen von traumatisierten Frauen auf, die vor der IS aus dem Nordirak geflohen sind.
Nicht alles möchte man für schwarz auf weiß nehmen, was der kämpferische und kulturpassionierte Bürgermeister und Autor Leoluca Orlando so leidenschaftlich verfechtet; nicht zuletzt während der Pressekonferenz in der prachtvollen Barockkirche Santa Caterina. Und doch ist es da: Palermo ist ihm Modell einer sich neu erfindenden Stadt, in der friedliche Koexistenz fortgeschrieben werden soll. Immer wieder hat der mehrfach amtierende Antimafia-Bürgermeister von Palermo dafür gekämpft. Begeistert hat er sich auch für die Manifesta stark gemacht und ihr viele Optionen ermöglicht. Nun kann er sich selber Impulse erhoffen. Das ist aktuell politisch überlebenswichtig. Mit seinem Slogan „Io sono persona“ als Charter für Palermo, das die Freiheit auf Mobilität als Menschenrecht bezeichnet, hat er sich international positioniert. Doch sind viele Probleme zu lösen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Armut weiterhin groß. Während viele Sizilianer die Insel verlassen, kommen täglich neue Migranten auf die Insel.
Man kann sich nicht sattsehen in der Stadt, in der nicht nur im Botanischen Garten alles zu wachsen und zu wuchern scheint und in der die Manifesta lediglich „urbane Akupunktur“ leisten möchte. Das gelingt ihr mit den zahlreichen Schnittstellen von Kunst, Botanik, Gestaltung und Forschung. Fast wie im Traum wandelt man in der Mittagshitze durch den Orto Botanico, wo fremde Spezien herrschen. Irritierend vor allem die Installation von Michael Wang vor einem stillgelegten Gasometer. Inmitten eines toxischen Ambientes überleben dort resistente Pflanzen. Unweit zeigt Wang einen giftigen Brunnen, voller Mikroben, die das verseuchte Surrogat seit Urzeiten kennen.
Kaum einer der Beiträge der eingeladenen Künstler enttäuscht; auch nicht nach langen Fußmärschen, um sie zu finden. Meist wurden kongeniale Orte für ihre Werke gefunden. Christina Lucas’ dreiteilige Videoinstallation „Unending Lightning“ (2015 – heute) etwa, zu sehen in der militärisch aufgeheizten, rationalistischen Mussolini-Architektur „Casa de Mutilato“. Mit immensen Rechercheaufwand protokolliert sie alle Bombenabwürfe seit 1912 mit Bildern und Grafiken. Im temporär öffentlich zugänglichen Staatsarchiv, ein altes Franziskanerkloster, stapeln sich dem Zerfall überlassene, nur von Schnüren zusammengehaltene Aktenstöße. Es sind Dokumente mehrerer Jahrhunderte, deren Inhalte verborgen bleiben. Eher aus Zufall wurde eine Akte gefunden, die belegt, unter welcher Beobachtung italienische Künstler und Schriftsteller in den 1950er Jahren standen, darunter der Filmemacher Vittorio De Seta, dem man kommunistische Subversion unterstellte. Dazu entwickelte das Filmkollektiv Masbedo eine ikonische Videoarbeit, die eine hölzerne Marionette zeigt. Die Skulptur, die unter kontrollierten Bewegungen agiert, steht hier nicht etwa für den Namensvetter Pinocchio als Metapher im Zeitalter der Fake News; sondern für den nichtgehörten Künstler.
Je länger man durch die Stadt zieht, umso mehr ist man auch mit den Möglichkeiten der aktuell heftig attackierten engagierten Kunst befriedet. Auch wenn der Palermitaner an einer fast heiligen Scheu vor Vollendung leidet, die Stadt wäre ein Ort, wo Kultur, wo experimentelle Kunst und Gestaltung eine Zukunft hätte.
Published in: Artist Kunstmagazin, Bremen, Nr. 116, 2018, S. 40f.