Sabine Maria Schmidt über Yves Netzhammer
Mit zwei fulminanten Installationen ist der Schweizer Künstler Yves Netzhammer auf der diesjährigen Biennale in Venedig und in der Karlskirche in Kassel im Rahmenprogramm zur documenta 12 vertreten. Der Beitrag zum Schweizer Pavillon macht in seiner radikalen auf die Architektur bezogenen Gestik, wie auch andere Pavillonbeiträge von Monika Sosnowska oder Aernout Mik, die rauminstallativ arbeiten, eine höchst gute Figur. Den Herausforderungen der zwei internationalen Leistungsschauen begegnet Netzhammer mit aufeinander bezogenen großformatigen Meisterstücken unter dem Titel „Die Subjektivierung der Wiederholung. Projekt A und Projekt B.“ Diese bringen narrative Bilderfolgen, ein weit verästeltes Formenvokabular, Projektionstechniken und architektonische Inszenierungen zusammen, die der in Zürich ansässige Künstler über mehr als zwölf Jahre entwickelt hat.
Anfänglich noch mit der kritischen Frage beäugelt, ob das als Hochbauzeichner und visueller Gestalter ausgebildete Nachwuchstalent sich nicht nur als hervorragender Illustrator, sondern auch als guter Künstler durchzusetzen fähig sei, gehört Netzhammer heute mit seiner eigenen Bildersprache und Computerästhetik zu den wichtigsten und ungewöhnlichsten Vertretern der Kunst der Neuen Medien. Netzhammer begann mit Plakatcollagen und kombinierte nachfolgend digital generierte Computerzeichnungen, die über Diaprojektionen als bewegte Sequenzen präsentiert wurden. Die ungewöhnlichen Zeichnungen in ihrer kühlen Perfektion und den überraschenden Metamorphosen wurden einem größeren Publikum bald aus einschlägigen Magazinen bekannt. In längeren Kooperationen lieferte Netzhammer wöchentliche Beiträge für „Das Magazin“ (Züricher Tages-Anzeiger), die „Basler Zeitung“, die „Berner Zeitung“ und des „Solothurner Tageblattes“. Ebenso entstanden autonome Beiträge für das Life-Style Wirtschaftsmagazin „brand eins“. Netzhammers Präsenz und Erfolg rührt auch daher, dass er von Beginn an nicht ins Ghetto der Medienfestivals und Homepages verortet bleibt, sondern den Diskurs mit einem breiteren Kunstpublikum findet. Auch die intensive Mitarbeit an verschiedenen Theaterprojekten des Autors und Regisseurs Tim Zulauf, zuletzt in „Copyshop Europa“ in Zürich zu Beginn 2007, ermöglicht andere Ausdrucksformen und Rezeption. Das Stück behandelt das Verhältnis von Kopie und Original, Differenz und Variation, ein postmodernes Lieblingsthema, politisch aufgeladen. Für die Inszenierung schuf Netzhammer einen großformatigen Flügelaltar mit verschiedenen Schiessscharten. Auf acht Bildtafeln erzählt er vom „Copyshop Europa“, von aufeinander gestapelten, zur Verwandlung verdammten Chamäleons, mal blutend und aufgespießt vom Europaflaggen-Stern; ein Motiv dass auch in Kassel erscheint.
Zunehmend entstanden Kurzfilme, zunächst auf Monitore oder in Mehrfachprojektionen in den Raum gebracht. Bereits in den ersten Installationen war spürbar, dass Netzhammer nach neuen Präsentationsmöglichkeiten für die Bilder suchte und der virtuellen Grenzenlosigkeit seiner visuellen Konstruktionen reale „Störfelder“ im Raum und mit Material entgegenzusetzen suchte, so in Installationen wie „Alte Narben um frische Verletzungen“ (2003), „Süßer Wind im Gesicht“ (2004) oder wieder anders in „Die Anordnungsweise zweier Gegenteile“ (2005). Der Betrachter findet sich vor den Filmen Netzhammers in unterschiedlichsten Situationen wieder, da der Künstler für jede seiner Arbeiten spezifische Inszenierungen entwickelt und sich dadurch die Perspektiven und Erzählfolgen immer wieder ändern. Er umhüllt den Zuschauer nicht nur mit virtuellen, sondern auch realen Räumen, die Schnittmengen miteinander finden. Besondere Bedeutung kommt dabei den Raumöffnungen zu, Diese greifen auf skulpturaler und architektonischer Ebene filmische Motive für Körperöffnungen (wie Türen und Fenster) auf.
In Venedig reagiert Netzhammer mit einem starken architektonischen Eingriff auf den 1951 von Bruno Giacometti durchgestalteten Pavillon. Dieser hat nun eine Decke erhalten, die sich aus eigenen Kräften aus den Angeln zu heben scheint. Die gesamte Ebene des schräg ansteigenden Daches, das den sonst offenen Innenhof überspannt, dient als Projektionsfläche. Zahlreiche Bilderinseln mittels Schablonentechnik angebracht, führen eine symbolische und zugleich verrätselte Neuordnung der Welt vor: Die Landmasse der Erde erscheint als riesiger Tintenklecks. Der Kontinent Afrika verwandelt sich in einen ornamentalen Flügel eines Schmetterlinges. Wandernde Tiere werden gefangen. Gitterstäbe der Käfige verwandeln sich in Orgelpfeifen. In einige Bemalungen sind Videoprojektionen eingepasst, die partiell schon von außen einsehbar sind. Zwei seitliche rote Rampen führen auf das Niveau der Decke hin, die mit der Kehrseite eine weitere Funktion als geneigte Bodenfläche eines Kinos erhält. Mit einem höchst ungewöhnlichen Einfall weckt Netzhammer die Körperwahrnehmung des Zuschauers, in dem er diesen die um 18 Grad extrem geneigte Rampe besteigen lässt. Auf dem blutrot gefärbten Fußboden sitzend erlebt der Betrachter dann einen ca. 45-minütigen Bilderfluss im Film, der über Einsamkeit und Ausgesetztheit, gestrandete schwarze Menschen und gefangene weiße Wale, weiße und schwarze Körper handelt, einer Welt, in der alles miteinander verwoben und verbunden ist. In Venedig, das längst als Tor für illegale Einwanderer aus Afrika bekannt ist, greift Netzhammer den Konflikt zwischen Arm und Reich, Schwarz und Weiß nicht als zu abstrakt verhandelnde thematische Masse, sondern über die spezifische Aneigung der Körpererfahrung auf. Das Fremde ist immer das „ungesehene Körperinnere“, der Schatten, der Traum, die Verwandlung, die seelische Prägung und die soziale Kodierung der Außenhaut, die bis in das Blut übergehen kann. Den Amputationen, Begrenzungen und Verletzungen, die Netzhammer laborartig an seinen „Stellvertreter“-figuen aufführt, steht im Film eine unaufhörliche Verwandlung körperlicher Erweiterungen, Verschmelzungen und Verbindungen entgegen.
“Mich haben die Klischees über Schwarze und Weiße interessiert, die sich ja bis in sprachliche Wendungen fortsetzen und für einen Zeichner sofort heikel werden, wenn er eine banale schwarze Linie auf ein weißes Blatt zeichnet. Ich wollte die Offenheit des Bildes nutzen, um die Dichotomie der Sprache aufzulösen und in einen Bereich vorzudringen, in dem einfache Gegensätze nicht mehr stimmen.“ (Yves Netzhammer).
Im Biennale-Kontext „Think with the senses – Feel with the mind“ erhält Netzhammers Denken in bildnerischen Analogien einen programmatischen Charakter, geht er doch immer von der persönlichen Körpererfahrung aus. Gibt es möglicherweise eine Ordnung, die auf Empfindung, Berührung und Beziehung beruht? Beziehungen, die das eigene Erleben voraussetzen, als neue Versöhnung von Subjekt und Welt? Sind wir in der Endlichkeit unserer Körper gefangen oder öffnen sich neue Möglichkeitswelten? Jedes Bild möchte als Ergebnis einer ständigen Selbstbefragung und der Suche nach einer formal-präzisen, aber dennoch nicht festgelegten Darstellungsweise verstanden werden. Nichts bleibt, was es scheint, Wertsysteme werden mit dem Gegenteil konfrontiert. Berührung bedeutet für den Künstler Annäherung und Aneignung, ebenso aber auch Anpassung und Identifizierung. Die Bilder Netzhammers sind Übersetzungen von Erfahrungen, manchmal als verdichtete poetische Landschaften und manchmal symbolische Bildreservate mentaler Zustände.
Auch in der Kasseler Karlskirche treibt Netzhammer einen Keil in die Architektur. Dieser öffnet sich als autonome Raumeinheit, die nur wenig Bezug auf den Kirchenraum nimmt. Hier ist sie Bühne eines Bildertheaters, in dem die Erscheinungen auf- und abtreten, ins Licht gesetzt werden, sich wieder auflösen, Monologe halten oder im Chor zusammentreffen. In Kassel führt Netzhammer eine meisterhafte Vermehrung von Trugbildern vor, in der nur unsichere Gewissheiten zustande kommen. Den Fußboden füllt ein Relief aus Blättern aus, eine farbige und materialisierte Daseinsform eines göttlich-schöpferischen Bausteinprinzipes, das sich in vielen Variationen als Motiv durch die Installation zieht. Während Netzhammer in Venedig einen realen Baum des Innenhofes in die Installation integriert, kreiert er mittels der axial gespiegelten Ecke einen virtuellen Baumstamm, der zahlreiche ikonographische Bezüge vom Paradies- bis zum Lebensbaum heraufbeschwört.
Der offene dreieckige Innenraum des Keiles ist komplett mit Spiegel-Wänden ausgekleidet, die die Projektionskörper wie Kugeln und Scheiben unendlich vermehren.
Mit diesem Prinzip, ebenso wie mit dem Titel geht Netzhammer explizit auf den Overkill der Informationsmedien ein und provoziert die Kontemplation der Wiederholung. Zugleich verflüchtigen sich die Bilder, bleiben nur in ihrer Wiederholung fassbar. Das an der Kasseler Installation ein geschätzter Medienkunst-Theoretiker, artig in der „Bürgel-geschulten-documenta 12-Terminologie“, eine „Migration der Relationen“ beobachtet, „die ihren gewohnten Zusammenhang verlassen haben“, darf an dieser Stelle einmal als Stilblüte zitiert werden: „Ein Migrant wie Netzhammer [der Künstler ist Schweizer !] kann seine Zeichen nicht als Interpretationen oder Bebilderungen von etwas anbieten. Es widerspricht der Poetik und Ästhetik der Migranten, Bedeutungen zu behausen und Sinngebungen zu verwurzeln.[.?.] Nicht nur, dass Netzhammer keine Integration anstrebt [ist damit die Verweigerung auf den Raumkontext gemeint?], er weicht auch dem Skandalon der Wanderschaft nicht aus. Sie ist unbequem. Deshalb drängt sich das Kunstwerk immer wieder akustisch auf.“
Als hätte es Erwin Panofsky und Kunstgeschichte nicht gegeben. Die Verwobenheit mit abendländischer Bildtradition und heimischen Medienbildern, zu der auch die Neuzuordnung von Bedeutungen gehört, charakterisieren gerade die suggestiven, fremden und zugleich vertrauten Bildwelten Netzhammers. Dass sich das Kunstwerk in Kassel akustisch immer wieder aufdrängt, verdankt sich einer höchst intensiven mehrjährigen Zusammenarbeit mit dem Züricher Komponisten Bernd Schurer, der seit 2004 ebenso wie die Textildesignerin und Frau des Künstlers Zusana Ponicova, zu den festen Kooperationspartnern des Künstlers gehören. Von Schurer stammt nicht nur die Musik zu zahlreichen Installationen, beide realisierten auch das Kunst-und-Bau-Projekt „Soundscapes“ in Zürich. Für die Kasseler Installation entwickelte Schurer eine 14-kanalige Tonstruktur, deren Resonanzen die großen Spiegelflächen in gefährliche Vibration bringen und die materielle Bedingtheit der Trugbilder erfahrbar machen. Der Musik kommt in der Kasseler Installation eine bis dato noch nicht erreichte Selbstständigkeit im Dialog mit den Bildern zu.
Netzhammer erweist sich – auch im Kontext der Medienkunst als „Bilderfinder“ im klassischen Sinne. Mit der spielerischen und unerschöpflichen Energie des Re-Kombinierens (Tim Zulauf) setzt der Künstler alle Rangordnungen außer Kraft, ordnet die Welt um. Unser Auge liest die Bilder, kann sie aber bestehenden Logiken nicht zuordnen.
Netzhammers Bilderzählungen sind überwältigend, bisweilen auch überfordernd. Zwar ist das intime Format der frühen Installationen in den jüngeren Beiträgen ein wenig verloren gegangen, doch gelingt Netzhammer auch hier das Paradoxon mit virtuellen Bildern neue Formen des Ein- und Mitfühlens auszulösen. Beide Installationen sind baldigste Wanderschaft des Besuchers wert.