Drei Puschkin-lesende Frauen in russischer Tracht, Fotografien von Orten einstigen Künstlerglücks und eine Laubsägen-Schiffsbesatzung aus früheren Performancefiguren bilden die drei „Säulen“ der neuen Ausstellung Yuri Leidermans, einem der renommiertesten Vertreter der zeitgenössischen Moskauer Kunstszene.
Der Titel der Ausstellung greift das Vorwort zu Puschkins „Hauptmannstocher“ auf, ein Schlüsselroman des großen russischen Autors und eines der bekanntesten Werke der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Das sentimentale Sujet der Handlung entwickelt sich vor dem Hintergrund des Pugatschow-Aufstands, einer blutigen Volkserhebung im 18. Jahrhundert. Zwei Offiziere, der eine ehrlich, der andere ein Schurke, kämpfen um die Hand einer schönen Kommandanten-Tochter.
Leiderman lässt den Text von drei Frauen in russischer Volkstracht lesen: auf Russisch, und in regelmäßigen Intervallen über die Dauer von vier Monaten.
Wie in vielen Arbeiten sucht der Künstler die Kategorien und Beziehungen von Form und Inhalt zu unterlaufen. Weniger um den Text als um das Bild und die in den konkreten und abstrakten Motiven der Stereotypen entstehende Ornamentik und Bedeutung geht es dem Autor in dieser Arbeit. Motive und kulturelle Identitäten in andere Kontexte zu versetzen, charakterisiert eine ganze Serie von Performances, die er unter dem Titel „Geopoetik“ zusammenfasst. Leiderman thematisiert darin Vorstellungen von Nationalität (ihre künstliche, ideologische und „halluzinatorische“ Konstruktion), ebenso wie Fragen kultureller Stereotypen und kulturellen Erbes.
So begegnete – wie ein dokumentarisches Video zeigt – der Betrachter in Leiderman-Ausstellungen Mongolen vor bewusstseinserweiternden Pilzen, einer Sitar-spielenden Inderin, Whiskey- trinkenden schwarzen Musikern, auf Regalen sitzenden Ukrainern oder dem Künstler in persona und in Admiralskostüm vor einer rätselhaften Box: Bilder, die mit den Funktionen von Symbolen, Erzählung und Illustration spielen und diese dennoch verweigern.
In der Fotoarbeit „Places where I was happy“ markiert eine mit roten Punkten erstellte Kurve das jeweilige Stimmungsbarometer des Künstlers. Die Fotoinstallation umspannt den gesamten Ausstellungsraum und hebt den Anspruch des „Subjektiven“ hervor, dessen Stellenwert Leiderman in seinem Werk und in seinen Texten immer wieder betont.
Literatur und Kunst gehen in Leidermans Werk eine enge Verbindung ein. Die Problematik, sich ohne Russisch-Kenntnisse nur peripher der verschlüsselten Bedeutungsebenen annähern zu können, ist Bestandteil der künstlerischen Arbeit. Das gilt auch für die Essener Leseperformance.
Die künstlerische Laufbahn des 1963 in Odessa geborenen und als Ingenieur ausgebildeten Yuri Leiderman begann 1983, als er an Ausstellungen in Privatwohnungen in Moskau und Odessa teilnahm. Er war in den 80er Jahren aktives Mitglied der sowjetischen, meist im Privaten agierenden Kunstszene und gründete 1987 zusammen mit Serge Anoufriev und Pavel Pepperstein die Gruppe „Medical Hermeneutics“. 1990 verließ er die Gruppe.
Leiderman lebte und arbeitete zu der Zeit in Berlin und Moskau.
Es erschien ein kostenloses Katalogheft (16 Seiten, dt./engl.)
Die Ausstellung war Teil der langjährigen Kooperation von Museum Folkwang und RWE AG (bis 2009), die explizit der Förderung zeitgenössischer Kunst galt.
Yuri Leiderman: Sketch for the performance in Essen, 2009
Copyright: Yuri Leiderman
Fotoduel between artist and curator….
Copyright for the other fotos on this page: Frank Vinken (Essen)
A video about the installment of the show!!