Im Juni 2001 feierte die Kunsthalle Wien im Rahmen ihrer Gesamteröffnung Eine barocke Party mit der von Sabine Folie und Michael Glasmeier kuratierten Show, die Augenblicken des Welttheaters in der zeitgenössischen Kunst nachspürte. Werke von Dinos und Jake Chapman, Wim Delvoye, Ulrike Grossarth, Yvonne Rainer, Sam Taylor-Wood und Paul Thek, ebenso wie Videosampling, Technobarock, Fire Art und Fassadengestaltungen sollten weniger illustrierende Brücken schlagen, denn Haltungen aufspüren, die einem barocken Kunstkonzept verwandt seien.[1]
Deftig Barock ging es 2012 auch im Kunsthaus Zürich mit einer Gegenüberstellung von rund 80 Werken des 17. Jahrhunderts und der Gegenwartskunst zu. Bice Curiger stellte mit einem Bogen von Cattelan bis Zurbarán Manifeste des prekär Vitalen vor.[2] Auch sie suchte tunlichst die Proklamation einer neobarocken Stilrichtung in der Gegenwartskunst zu vermeiden. Schließlich waren gerade die ausgesuchten Künstler beste Repräsentanten einer stilskeptischen künstlerischen Arbeitsweise, die auf permanente Veränderungen und Brüche angelegt ist. Darunter zählten u.a. Juergen Teller, Nathalie Djurberg, Robert Crumb, Paul McCarthy und Urs Fischer. Ein Jahr zuvor präsentierte das Museum London die Ausstellung Barroco Nova: Neo-Baroque Moves in Contemporary Art mit einer ebenso erstaunlich gemischten Künstlerliste, darunter Jennifer Allora & Guillermo Calzadilla, David Altmejd, Sharyl Boyle, Diana Thater und Kathy Slade.
Natürlich geht es beim Stichwort „Barock“ längst nicht nur um Pomp, Schnörkel und Gold, auch wenn diese auf dem Kunstmarkt der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts tatsächlich ein glänzendes Revival erfahren haben und die finanziellen Energien des Absolutismus von denen eines neoliberalistischen Kapitalismus abgelöst schienen. Carpe diem et memento mori – ein Leitspruch im 17. Jahrhundert, beständig von Pest und Krieg genährt, berührt ebenso sicherlich nicht das Lebensgefühl unserer Zeit, das eher auf den Glauben an Kontrollierbarkeit und Absicherung setzt.
Dennoch treffen sich zahlreiche Stichworte in allen Projekten, die eine Abkehr von den konzeptuellen, konkreten, abstrakten und dokumentarischen Positionen in der Gegenwartskunst beleuchten. Und die Künstler haben es ihnen vorgemacht. Zeitgenössische sogenannte „neo-barocke“ Kunstwerke vertrauen auf starke und kraftvolle visuelle Effekte, Dynamisierung, eine bisweilen überladene Materialität, eine ungehemmte Inszenierung und Ästhetisierung. Sie zeigen keine Scheu vor direkten Zitaten, nutzen eine vielschichtige und oft gattungsübergreifende Montagetechnik (die man zuvor ebenso als Cross-Over bezeichnet hat). Das Spiel mit Täuschungen und Realität, mit Schein und Sein, mit Spiegelungen und Licht, mit prachtvoller Üppigkeit und morbider Zerbrechlichkeit des menschlichen Körpers zielt zudem auf einen Betrachter, der verführt und dessen Sinne angeregt, gar überwältigt werden sollen. Das trifft noch immer nicht jedermanns Geschmack. Doch ist auch hier eine Verlagerung kunstkritischer Hemmschwellen (und ihrer Bewertung als kitschig und oberflächlich) international zu beobachten.
Kunsthistorisch ist der Begriff des Neobarock mit den verschiedenen Erscheinungsformen des Historismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verknüpft. Vor allem in der Architektur und in den Theaterbauten fand sich eine Vorliebe für barocke Formensprache, hatte sich die Epoche des Barock doch als eine Hochblüte theatralischer Kunstgattungen ausgezeichnet. Doch ist der Begriff längst aus seiner stilgeschichtlichen Definition herausgelöst. Der Blick auf ein Zeitalter und dessen Werke ist veränderlich. In jeder historischen Rekonstruktion scheint der Wissenszusammenhang der eigenen Epoche auf. Die Barockbegriffe waren bis dato aus zwei Komponenten zu verstehen: aus der Erweiterung des Renaissancebegriffes des 19. Jahrhunderts und in den immanenten künstlerischen Bemühungen, die im Aufkommen des Impressionismus beziehungsweise Expressionismus zum Antiklassischen und zur Errichtung subjektiver Ideale ihren Ausdruck fanden. Es wäre somit zukünftig zu klären, welche Bestrebungen, etwa eine Gegenbewegung zur abstrakten, konzeptuellen Kunst, eine Hinwendung zum Neo-Barocken begründen. In dem nur schwer umgrenzbaren Barockzeitalter war der Begriff „barock“ selbst nicht präsent, die Bezeichnung entwickelte sich erst langsam im Laufe der Aufklärung. Sie markierte einen grundlegenden Epochenwandel angesichts von Instabilität und zerbrechenden Ordnungen. Anstelle eines sicheren Standpunkts des Individuums gegenüber einer geordneten Welt im Sinne des perspektivischen Raumempfindes der Renaissance stand eine schwindelerregende Implosion und Multiperspektivität.
Erlebt die Kunstgeschichte derzeit mit diesem Revival innerhalb der zeitgenössischen Kunst etwa eine neue Periodendiskussion? Wohl eher kaum. Denn gibt es irgendetwas, dass unsere Epoche grundsätzlich definieren kann? Das neue Zeitalter des Spektakels wurde längst im Kontext eines längerdauernden Mediendiskurses ausgerufen und trifft alle Bereiche der Hoch- und Pop-Kultur, die ohnehin immer ununterscheidbarer werden. Es ist vor allem die beständige Repetition der Mega-Events, die unseren Lebensalltag umspinnen.
So heißt es, um ein aktuelles Beispiel zu nennen in einer Ankündigung des Theater Dortmund: „Im Goldenen Zeitalter des 21. Jahrhunderts ist Anfang und Ende dasselbe: Alles fließt im Sog der Daten-, Bilder- und Warenströme und kehrt wieder im Rhythmus der Produktionszyklen. In Spiralen quält sich die Zeit von Spektakel zu Spektakel. Es ist noch nicht allzu lang her, da läutete man deshalb das „Ende der Geschichte“ ein – jetzt erzählt man sich, ein neues unbekanntes Zeitalter dämmere herauf. Was denn nun? Ist es unser Schicksal, keine Alternative zu haben? Oder leben wir die Alternative längst und bemerken es nicht?“[3]
Bereits 1992 hat der italienische Semiologe Omar Calabrese eine grundlegende Publikation über das Neo-Barocke vorgelegt, die von einem Vorwort von Umberto Eco begleitet wurde.[4]
Calabrese beobachtete in der gesamten Kulturproduktion eine neue Lust an Virtuosität, wilde und rasende Rhythmen, Instabilität, Mehrdimensionalität und Veränderung. Die Zeichen der Zeit stünden für eine große Variation in literarischen, philosophischen, künstlerischen, musikalischen und architektonischen Formen. Und diese zögen sich nicht allein durch Kunstbiennalen, sondern ebenso durch die neuen Wissenschaften, die Literatur (Der Name der Rose) Unterhaltungsmedien wie Fernsehserien (Bonanza, Dallas) und Videospiele und vor allem den Film (Alien, ET, Blade Runner, Star Wars). Bereits zu Beginn seiner Schrift verweigert Calabrese einen qualitativen Unterschied zwischen Donald Duck und Dante und die problematische Unterscheidung zwischen High- und Low- Culture. Da alles bereits gesagt und geschrieben, gemacht und gesehen sei, gelte es nun die Poetik der Wiederholung zu entdecken. Was Calabrese unter „neo-barock“ deklarierte, beschrieben andere Autoren seinerzeit als „postmodern“. Ein anderes Etikett also, das er vorschlägt und das dennoch den Kulturbegriff anders zusammenfasst, da es das intensiv und vielschichtig ab- und durchgearbeitete Referenzsystem zur Klassischen Moderne erweitert. Mit dezidierten Stichwörtern wie Geschmack und Methode, Rhythmus und Wiederholung, Grenze und Exzess, Detail und Fragment, Instabilität und Metamorphose, Knoten und Labyrinth markiert er Kategorien, die vor allem durch die Bedeutung des „Zitates“ in künstlerischen Produktionen gekennzeichnet sind und darin mit dem Barocken in Verbindung gestellt werden können.[5]
Bei dem Gedanken an überschwengliche Formen, Dynamik, Ekstase und Theatralik sollten nicht nur Protagonisten wie Jeff Koons, Bill Viola, Frank Stella oder der Architekt Frank Gehry Assoziationen hervorrufen. Die Künstler des 17. Jahrhunderts inszenierten das Spektakel, das Ereignis und stehen damit vielleicht stärker in Verbindung zu Theater, Performance, den Unterhaltungsmedien der heutigen Zeit denn zu der Bildenden Kunst.
Wie unterschiedlich die Bezüge zu „Neobarockem“ ausfallen können, wenn man sich auf sie einlassen mag, zeigt exemplarisch auch die hiesige Gruppenausstellung in der Galerie Henrik Springmann, die einige herausragende Positionen der amerikanischen Kunstszene vorstellt. Die Begeisterung für „Novo Barroco“ ist ein internationales Phänomen und fällt vor allem in den USA viel unmittelbarer aus. Doch läßt sich auch keiner der Künstler dieser Ausstellung auf eine primär barocke Haltung, Formensprache oder Strategie festlegen. Der Begriff ist somit auch hier als eine fokussierende Lupe zu verstehen, die bei zu langer Nutzung die Effekte eines Zerrspiegels erzeugen kann.
Nir Hod’s Kinderportraits aus der Genius-Serie spielen mit barocken Portraittraditionen, ebenso aber auch mit denen der Modefotografie und den Posen ehemaliger (noch öffentlich rauchender) Hollywoodschauspieler. Ihre missmutig, bisweilen traurig, bisweilen unheimlich dreinschauenden Kinder könnten ebenso Tim Burton-Filmen entsprungen sein. Nir Hod’s Bilder handeln über die Abgründe des Narzismus. Sie fragen auch, ab wann Kinder manipulieren bzw. manipulierbar werden, ab wann sie in gewisser Weise „böse“ erscheinen; böse im Sinne von nicht mehr authentisch und sich ihrer Inszenierung selbst bewußt, ohne darunter zu leiden. Die ebenso melodramatisch wie aristokratisch inszenierten Genies (oder Dämonen?) sind allerdings noch zu vital, um Vanitas-Gedanken (à la Dorian Gray) zu beschwören. Sie sind nicht von dieser Welt, vielleicht verzichten sie daher auch auf jegliche Tarnung.
Dezidiert barock wirken die überladenen, ironischen Preziosen von Carlos „Dzine“ Rolon, über dessen Werk auch regelmäßig in Fashion- und People-Magazinen berichtet wird. Rolon, Sohn puertorikanischer Einwanderer, beherrscht wie Damien Hirst die Kunst des Exzessiven und der Übertreibung und wurde vor allem mit einer Serie von reich ornamentierten, mit Schmuck behangenen und Millimeter für Millimeter verzierten Fahrrädern, Autos und Booten bekannt, die es mit den Karrossen von Sonnenkönigen spielend aufnehmen. In „Dzine“ Rolons Kunst verschmelzen die Sehnsüchte des Ghettos mit denen der Supperreichen: Schmuck, Reichtum, Statussymbole wie Rolexuhren und schnelle Schlitten, mit Juwelen verzierte Fingernägel und Körpertattoos finden ebenso auf der Straße wie in den exklusiven, abgeschirmten Privatvillen ihre Ausdrucksform. Schein ist Sein. Im Kampf um und für das Schöne kann nichts genügen.
Rashaad Newsomes Collagen verknüpfen ebenso unmittelbar barocke Formensprache und Popkultur, Erotik und Vanitassymbolik in einer opulenten Ornamentik, die an alte Herrscherinsignien und Heraldik erinnert. Fotografien von Tiffany & Co, Van Cleef & Arpels oder Cartier bilden nur den Hintergrund einer opulent ausgeschmückten Werbewelt aus Perlen, Steinen und Zierrat aller Provenienz. Der aus New Orleans stammende Künstler und Filmemacher untersucht vor allem die visuelle Ausdruckskraft von Macht und Status, die ebenso Gefallen in der schwarzen Rapper- und Hip-Hop-Szene findet. Ob man in den Videos wie Herald (2011) Ritter, Tod oder Teufel begegnet und auf welche Erlöser es zu warten gilt, bleibt offen.
Computerspiele wie Phantasmagoria, Doom, Tombraider, Spiderman Themenparks, Bel Composto, Medici-Hochzeit und Terminator, alles vermischt sich in labyrinthische Kompositionen und Illusionstechniken, die eine Unterscheidung von Gut und Böse nicht mehr kennen und die sich im übrigen außerhalb der bisherigen kunstkritischen und akademischen Beschäftigung mit Repräsentation befinden. Neobarocke Tendenzen implizieren damit einmal mehr gepflegten Eklektizismus. Aber sie sind eben auch ein globales Phänomen, das sich von einem vereinheitlichen Kanon oder Geschmack nicht mehr kontrollieren läßt.
Die afro-amerikanische Künstlerin Iona Rozeal Brown, die ebenso ihre Karriere als DJ verfolgt, nutzt als Bildträger Holztafeln und Objekte wie Skateboards. Sie wäre – vor allem mit ihren jüngeren Arbeiten – ebenso eine Kandidatin für eine Ausstellung über den Einfluss des Japonismus, den sie mit afrikanischer Hip-Hop-Kultur vermischt, reagierend auf die japanische Ganguro-Szene, die wiederum schwarze Hip-Hop-Kultur adaptiert.[6] Zu ihrem malerischen Werk gehören aber ebenso dynamisch ausladende Darstellungen von Hip-Hop-Tänzern, die sie als Engel und Erzengel bezeichnet und in Friesen wie Altarbilder arrangiert und damit auch auf eine phantastisch-mythologisierende und sakralisierende Allegorisierung zielt.
„Als einen beständigen Tanz zwischen Chaos und Ordnung“ bezeichnet Shinique Smith ihre üppigen Stoffskulpturen, die aus benutzer und ausrangierter Kleidung bestehen und nach ihrer kulturellen, sozialen und persönlichen Bedeutung fragen. Tanz, Graffitti, tibetanische Kultur und Mode, Einflüsse von Jean-Michel Basquiat oder japanischer Kalligraphie, die Auseinandersetzung mit der Konsumkultur lassen sich in ihrem Werk eher konstatieren als eine Lust an Überfluss, barocker Draperie oder Groteske. Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist ein ritueller Prozess, der mit dem Sammeln und sorgfältigen Arrangieren beginnt, dem ein Verbinden, Verknoten und Vernähen folgt. So sind mehrere – auch monumentale mandala-artige Collagen entstanden. In ihrer farbenfrohen Malerei brechen die Formen bisweilen in dynamische Formen und Lineaturen aus, die an Comics und die ausladend-schwelgende Formenwelt im Spätwerk Frank Stellas erinnern.
Ende der 90er Jahre beeindruckte Gary Simmons mit monumentalen Zeichnungen, die auf großen Tafeln mit weißer Kreide aufgetragen und dann verwischt bzw. aufgelöscht wurden. In ihnen fanden sich suggestive Symbole und Spuren inhärenten Rassismus, die sich noch immer tief in die amerikanische Populär- und Alltagskultur eingegraben haben. Wie geisterhafte Erscheinungen drängen sich die Bilder Simmons in das Bewußtsein. Es ist die Zeit, die individuelle und kollektive Erinnerung fragmentiert, verschleiert bzw. verklärt. Simmons interessiert das Spannungsfeld von Präsenz und partieller Absenz kultureller Stereotypen und Ereignisse, die das gesellschaftliche Bewußtsein prägen, sich einbrennen, aufflammen und zumindest für eine Zeit wieder verlöschen.
Sabine Maria Schmidt
[1] Ausst. Kat. Eine barocke Party: Augenblicke des Welttheaters in der zeitgenössischen Kunst, hrsg. von Gerald Matt, Kunsthalle Wien, Wien 2001
[2] Ausst. Kat. Deftig Barock. Von Cattelan bis Zurbarán – Manifeste des prekär Vitalen, Kunsthaus Zürich, Snoek Verlagsgesellschaft, Köln 2012
[3] Ankündigung zur Uraufführung von „Das Goldene Zeitlater – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen, Theater Dortmund 2013, http://www.theaterdo.de/detail/event/3950/
[4] Omar Calabrese: Neo-Baroque. A sign of the Times, mit einem Vorwort von Umberto Eco, Princeton University Press, 1992
[5] In diesem Zusammenhang sei auch auf folgende Publikation hingewiesen: Angela Ndalianis: Neo-Baroque Aesthetics and Contemporary Entertainment (Media in Transition), MIT Press 2004
[6] Ganguro (jap. 顔黒) ist die Bezeichnung für zumeist jugendliche Mädchen, die einem erstmals in Shibuya, einem Jugendviertel in Tokio, aufgetretenem Trend folgten. Das Wort setzt sich zusammen aus gan, dem japanischen Wort für „Gesicht“, und kuro, was auf japanisch „schwarz“ bedeutet.