Artist-Polemik

Wenn ich mir zum Jahres- und Dekadenwechsel etwas hätte wünschen dürfen, dann mehr Gelassenheit und weniger Augenmerk für Pseudodebatten und Populisten im Feuilleton. Doch kaum stand Weihnachten vor der Tür, bot ein von einem Kinderchor vorgetragenes, verballhorntes Kinderspotlied unfreiwilligen Anlass für Hetz- und Hasstiraden in rechten Facebook- und Twitterkampagnen. Hier wären Kinder „missbraucht“ worden von Vertretern einer neuen „Ökodiktatur“, ausgestrahlt von „Systemmedien“ wie dem WDR-Rundfunk; so der Sprache missbrauchende Duktus rechtsradikaler Narrative, die dann auch leibhaftig vor Ort (am Kölner Appelhofplatz) vorgetragen wurden. Neben Migrant*innen sind Umwelt- und Klimaschützer*innen zu Hauptfeinden von Weltverschwörungstheoretikern und Neurechten geworden. Aktivem, gemeinschaftsorientiertem Handeln und realem, oft sozialem Engagement von Menschen wird auch im Alltag immer häufiger mit Hass entgegnet.

Das polemische und realitätsverzerrende Narrativ einer „Diktatur von Eliten“ hat mittlerweile zahlreiche Bereiche eingefärbt. Und auch im Kultur- und Kunstfeuilleton ist selbst aus intellektuelleren Kreisen ein immer selbstgefälligerer Populismus zu beobachten.

Je unsinniger und unverschämter Behauptungen sind, um so mehr Platz scheint ihnen gewährt. Erst mal „heftig was raushauen“, egal, was es ist und auf welchem Niveau. Dann müssen sich die Gegenparteien damit herumschlagen und argumentativ entgegnen, warum der in Feuilletons und sozialen Medien breit gestreute Unfug ein ebensolcher ist. Erstaunlich wie das, auch nach fünf Jahren ermüdendem, meist demokratiefeindlichen Populismus, weiterhin bestens funktioniert.

So galt es auch, die Augen und Ohren zu reiben, als Anfang November 2019 ausgerechnet zwei sogenannte „Insider“ des Kunstbetriebs zu mehr „Demokratie in der Kunst“ aufriefen. Einer der beiden, der Autor und Dozent Stefan Heidenreich, lehrt Medientheorie an der Universität Basel, und dürfte wissen, was er tut. Er hatte bereits vor zwei Jahren rhetorisch die Abschaffung von Kuratoren im Kunstbetrieb gefordert. Anlass war die schwer verdauliche und komplizierte „Documenta 2019“ unter Adam Szymczyk, die allerdings zahlreichen demokratischen und künstlerischen Stimmen, die man sonst selten zuvor zu sehen bekam, ein Podium gewährt hatte. Ähnlich wie im damaligen Artikel sind einige Grundgedanken durchaus interessant, werden aber eben nicht wirklich im Artikel verfolgt, sondern verlieren sich in durcheinandergewürfelten, bisweilen abstrusen Beobachtungen und Thesen. Bei dem anderen Autor, Magnus Resch, kann man sich bisweilen nicht ganz sicher sein, ob er selber ganz durchdringt, was er eigentlich behauptet, doch dazu später.

Ab einem gewissen, niederschwelligen Level macht es ja eigentlich keinen Sinn, auf Behauptungen argumentativ zu reagieren. „Schluss mit dem Kult der Exklusivität“, titelte ausgerechnet die Wochenzeitung „Die Zeit“ einen Aufruf von Heidenreich und Resch (29. Oktober 2019). Die Kunstwelt müsse endlich demokratisch werden“, hieß es in den Untertitelzeilen. Was folgte, war eine Aneinanderreihung von abstrus vereinfachten Banalitäten und Allgemeinplätzen über Kunstmarkt, Museumsausstellungen und einige deklamatorisch in Fett gesetzten vorgetragenen und völlig überflüssigen Tipps an Künstler und Betrachter. Wo waren die Autoren nur unterwegs, mochte man fragen. „Künstler sollten etwa ihre Fans mobilisieren“ – als würden sie ihre Arbeit und Ausstellungen im Geheimen austragen und nicht längst unterschiedlichste Media-Strategien entwickeln. „Käufer, erwerbt, was euch gefällt, nicht, was sich lohnt!“ – als wäre bei mächtigen reichen Sammlern noch ein Unterschied zu vermerken zwischen dem was gefällt und sich lohnt.

Der klapperdürre Beitrag, in dem jeder Satz beim Lesen schmerzte, wurde in zahlreichen Feuilletons aufgegriffen und heftig kritisiert. Geht es den Autoren mutmaßlich weniger um eine wirklich die Produzent*innen und Betrachter*innen fördernde Debatte, als vielmehr um eine, die den eigenen Geschäftsmodellen zuträglich sein dürfte? Dass dabei in Kauf genommen wird, die Arbeitsleistungen zahlreicher Berufsfelder und Fachleute im Kunstbetrieb zu diskreditieren, wie es Kolja Reichert treffend anmerkte (Kolja Reichert: „Die Kunst demokratisieren? Bitte nicht!“, FAZ, 30.11.2019), macht die Debatte dann leider doch zu einem kleinen Politikum. Denn der Kunstbetrieb, mit all seinen diversen Institutionen, Stimmen, Berufsfeldern, Ausbildungsinstituten, Vermittlungsmodellen, professionellen Akteuren, ebenso wie Quereinsteigern und Amateuren, Vernetzungen zu Geistes- und Naturwissenschaften, Markt und anderen öffentlichen Stadtgesellschaften ist durch und durch demokratisch. Dass diese weit verästelten Strukturen allerdings zunehmend von ökonomischen Machtverhältnissen überlagert werden, ist ja ein wichtiger Streitpunkt, der allerdings nicht erst jüngst mit diesen beiden Herrschaften, sondern im Kunstbetrieb von vielen Künstler*innen, Kurator*innen, und Kritiker*innen permanent zur Diskussion gebracht wird.

Man möchte das Scheingefecht von Heidenreich und Resch daher ins Donquijoteske verlagern, doch kämpfen beide Autoren eben nicht gegen die „Perversitäten“ einer „Finanz-Elite“ im völlig überheizten Kunstmarkt, in dem Werke auf Kunstauktionen gehäckselt werden, unzählige Fälschungen kursieren oder Instagram-Sammler aufgeblasenen Mickey-Mouse-Puppen zu Preisrekorden verhelfen (Holger Liebs: „Das ist Populismus“, in: Der Freitag, 49/2019). Vielmehr möchte man offensichtlich Anteil haben am dicken Kuchen. Den gewähren – so der Plattformkapitalist und Jungunternehmer Magnus Resch – eben neue Apps und Plattformen, geteilt und genutzt in den sozialen Medien, bezahlt mit den Klickrates der Währungsökonomie Aufmerksamkeit. Das konnte man direkt auf Facebook verfolgen, wo beide mit Stolz vermerkten; ihr Beitrag hätte so viele Klicks wie noch nie bei einem Zeit-Artikel generiert.

Wer ist dieser Magnus Resch, der Sätze triggert wie „“Gute Kunst existiert nicht und ist lediglich eine Marketingphrase“ oder „Kunstakademien müssen abgeschafft werden, da sie in die Arbeitslosigkeit führen“ oder „Künstler müssen kundenfreundlicher werden“?  Ein genialer Outsider, der stattdessen ein eigenes Online-Seminar „Magnus_Class“ anbietet: der eigene Name ist Programm. Finden ihn wirklich so viele cool?

Wer auf die Homepage des energetischen Jungunternehmers schaut, der am Anfang mal schnöde Betriebswissenschaft studiert hat, und nun als „Prof. Dr. von wer weiss was“, die Kunstwelt „aufmischt“, erfährt von einem Wunderkind, das alles, was es in den Händen hält, zu Gold macht. „Magnus is the leader“, zitiert er (!) die „New York Times“, die u.a. über seine neue App berichtet: „Shazam for Art“, erfunden von Magnus himself. Das Problem: Wegen Vorwürfen von Datenklau und Copyright-Verletzungen wurde die App 2016 zunächst aus dem Apple Store herausgenommen. Aus welchen Quellen sich die App speist und welche Forschungsergebnisse hier einwirken, bleibt unerwähnt: crowd sourcing heißt das heute. Nicht zuletzt gibt es auch Museen wie das Metropolitan Museum, die ähnliche Apps entwickelt haben: man fotografiert ein Bild und erhält ausführliche Informationen darüber. Die MagnusApp bietet zudem aktuelle Rankings über die Preisentwicklung von Künstlern an. Zu einem Bestseller ist angeblich auch Reschs Buch über „das Management von Kunstgalerien“ geworden. Wer das lese, dessen Galerie würde ein „Profit-Center“, tönt der Autor in einem von Huawei gesponserten Videointerview. Hingegen rät er Künstler von der Allmacht der Galeristen ab. (Übrigens: Bis dato hat sich bei der Autorin dieses Artikels noch niemand dazu bekannt, das Buch gelesen bzw. einen Kurs besucht zu haben; was letztlich vielleicht aber eher das Unbedeutend-Sein der Autorin belegt). Ein Meister des Name-droppings und des dekontextualisierten Eigenlobs ist Resch allemal. Leonardo DiCaprio sei stolz darauf, ein Partner von „Magnus“ sein zu dürfen, heißt es zur App.

Für die ewig zermürbende Frage, warum der eine in der Kunst erfolgreicher ist als der andere, bemüht Resch eine eigens durchgeführte datenvisualisierte „Harvard-Studie“, die in dem US-Wissenschaftsmagazin „Science“ veröffentlicht wurde und zu einem „verblüffenden“ Allgemeinplatz kommt: Mächtige Galerien haben den größten Einfluss auf den Erfolg von Künstlern. Dieser habe also nichts mit der eigentlichen Kunst zu tun! Das Netzwerk eines Künstlers sei am Ende entscheidender, las man in einem Spiegel-Interview (Spiegel Kultur, 28.12.2019). Qualität spiele keine Rolle.

Ist Resch also ein neuer Felix Krull im Kunstbetrieb? In der Unterhaltungsbranche hatte sich der Start-Up-Unternehmer mit seinem enthemmten Narzismus zunächst viel Hohn & Spott eingebracht und dafür die Auszeichnung „#beimirläuft’s“ von den TV-Stars Joko und Klaas in der Sendung „Circus HalliGalli“ erhalten. Skifahrend hatte sich der Jungstar selbstberauscht gefilmt und kommentiert: „Tja, ob das bei euch genauso (geil) gerade ist? I daut it!“. Das Video ging viral und wurde zur Meme. Resch nutzt das gern zur weiteren Selbstvermarktung. „Blutjung“ war Resch bereits bei Springstar eingestiegen, hatte das Online-Fitness-Studio „Gymondo“ mitbegründet, den Schmuck-Shop „Juvalia & You“ und dann vor allem die vielleicht erfolgreichste Seite „Larry‘s List“, also genau die Plattform, die Privatsammler und Finanzeliten miteinander vernetzt und auf der wieder zahlreiche neue Apps an den Mann und die Frau gebracht werden können. Da kann man z.B. erfahren, wo man mal eben einen Raum in Shanghai für eine Pop-Up-Exhibition mieten kann.

Wenn Resch also von „mehr Demokratie im Kunstbetrieb“ spricht, hört sich das eher nach Marketing und einer Multiplikation von Konsumenten an. Bereits jetzt wurde angekündigt, dass Heidenreich und Resch ein „neues Geheimnis“ lüften werden, das den anderen unzähligen Playern des Kunstbetriebes offensichtlich bisher entgangen ist. Mit diesen könne man die Besucher stärker darin einbinden, zu entscheiden, was sie denn sehen möchten. Was sich daraus generieren könnte, kann man dann hoffentlich nicht nur auf Instagram und Facebook, oder mittels Lotterien beobachten.

Auf Plattformen wie Instagram oder Larry’s List gibt es nur Gewinner und Global Player. Viele der Protagonisten agieren in einer selbstverliebten, realitätsverzerrenden „Platz da, hier komm´ ich!”- Erzählung. In demokratischen Strukturen gibt es aber auch Minderheiten und Verlierer, die eben nicht ökonomisch autosuffizient arbeiten können und daher von größeren Gemeinschaften geschützt werden müssen. In der Welt der sozialen Medien finden Beharrlichkeit, Rückzug und Zweifel, Ringen um Form und Idee, die Dauer und das Scheitern von Arbeitsprozessen oder Schüchternheit nur selten Ausdrucksformen. Wahrhaftigkeit, Schönheit und innere Notwendigkeit, die Fähigkeit zur Selbstreflexion; all das sind Kategorien, die seit der Aufklärung die Qualität von Kunst mitdefiniert haben. Und nicht zuletzt: zur Qualität des Kunstbetriebs gehören auch integre Persönlichkeiten, die unbestechlich bleiben möchten, die in dem Bewusstsein davon leben, dass persönliche Maßstäbe und Wertvorstellungen sich im Verhalten und in der ästhetischen Produktion ausdrücken können. Ein solcher Einsatz für subjektive positive Werte ist ein ganz elementarer Bestandteil demokratischen Handelns. Es wäre weiterhin ein dringlicher Wunsch, das genau darüber in den immer marginaler werdenden Feuilletonspalten berichtet wird.

(15. Januar 2020)

Recent Publications

My text contribution: Zukunft, nicht konkret, p. 66 (engl. / german)
Just published!!! Edited by Sabine Maria Schmidt and Matina Lohmüller

Videonale.17


Korpys/Löffler: Echokammer, 2018, Foto: Screenshot, SMS

Panel: Journalistische Techniken als künstlerisches Mittel der Intervention

22.2., 13:30 Uhr!

Gespräch mit
Mareike Bernien (Künstlerin V.17, Berlin)
Alex Gerbaulet (Künstlerin V.17, Berlin)
Oliver Ressler (Künstler V.17, Wien)
Dr. Sabine Maria Schmidt (Kuratorin, Düsseldorf)
Moderation:
Maria Engelskirchen (Wissenschaftliche Mitarbeiterin/Doktorandin, WWU Münster)

Das Panel legt den Fokus auf aktuelle künstlerische Arbeiten, die auf der Adaption dokumentarischer oder journalistischer Techniken basieren. Dabei interessieren Strategien der Hervorbringung von Gegenerzählungen und damit einer Gegenöffentlichkeit ebenso wie die Reflexion über die eigene künstlerische Praxis im Sinne einer ebenfalls medial konstruierten Form der Wahrheit. In welcher Wechselbeziehung stehen die Erzählungen des Dokumentarischen und der medialen Künste und welche neuen Bildsprachen zeichnen sich ab?

Talk mit Ulrike Rosenbach


TALK WITH ULRIKE ROSENBACH
27.1.2019, 15 Uhr
Kunsthaus nrw, Kornelimünster, Aachen

Published in November 2018

Hrsg. von Sabine Maria Schmidt unter Mitarbeit von Julia Draganovic und Christoph Faulhaber.
Mit zahlreichen Textbeiträgen, Interviews und Kurzerläuterungen von Inke Arns, Julia Draganović, Christoph Faulhaber, Holger Kube Ventura, Victor Manuel Palacios Armendàriz, Sabine Maria Schmidt, Reinhard Spieler und Oliver Zybok. Gestaltung von Carsten Wittig, Deutsch, Englisch, Hatje Cantz Verlag, Kunsthalle Osnabrück 2018

Kunstkritik und Netzkultur

Johannes Bendzulla, Intro zur Presseschau vom 28.5.2018, courtesy der Künstler

Kunstkritik und Netzkultur

Eine Tagung des Kunstkritikerverbands AICA Deutschland (Association International de Critique d’Art) zu Gast in der Kunsthalle Mannheim
10. November 2018,  9 – 15 Uhr
Konzeption: Sabine Maria Schmidt, Vize-Präsidentin der AICA Deutschland

Welchen Einfluss haben Digitalisierung und Social Media in den letzten Jahren auf die Kultur- und Kunstberichterstattung, wie funktionieren dabei die Medien?
Das Symposium der AICA Deutschland diskutiert die neuen Chancen und Herausforderungen für die Kultur- und Kunstberichterstattung, die Funktionsweise verschiedener – auch zukünftiger – Medienformate, neuer Begrifflichkeiten und Verschlagwortungen im Internet, der Bildung neuer Interessensgemeinschaften bzw. Interessenskonflikte und Möglichkeiten des Corporate Publishing. Kunstkritik ist der Ort für die Entwicklung von ästhetischen Bewertungskriterien, der Ort freier und unabhängiger Argumentation. Sie steht bzw. stand im Wechselverhältnis zum Kunstmarkt, der einen Bedarf an Expertisen über die monetäre Wertschätzung von Kunst erzeugt. Welche Rolle hat geschriebener Text angesichts der wachsenden Bedeutung bildbasierter Repräsentation? Wie verändert sich dessen Gewicht aufgrund der Gruppendynamik von Social Media oder Influencer-Berichten? Welche Zukunft hat die Kunstkritik? Wie lässt sie sich finanzieren? Die Beiträge stammen primär von AICA-Mitgliedern und werden von knappen Thesenpapieren und Diskussionsbeiträgen weiterer Mitglieder moderiert und flankiert.

Begrüßung:
Sebastian Baden, Kurator, Kunsthalle Mannheim
Danièle Perrier (Präsidentin der AICA Deutschland)

START-UP Performance von Thierry Geoffroy

Sabine Maria Schmidt: Followers for Everyone! Oder: Allein arbeiten macht seltsam…
Thomas Wagner: Kunstkritik in der Stammeskultur – Netzträume, Content-Management, Resonanzen und die List des Igels
Barbara Hess: Vom Wert der Kritik in der (digitalen) Netzwelt. Versuch eines Lageberichts
Annekathrin Kohout: Kunstkritik und Soziale Medien
Johannes Bendzulla: Kunstkritik als Metakritik ­– Beobachtungen zum Stand der Kritik im Netz

Manifesta 12 Palermo _ eine Review

Manifesta 12
The Planetary Garden – Cultivating Coexistence

Sabine Maria Schmidt

Schon Odysseus kam nach Sizilien. Allerdings nicht freiwillig. Seefahrer wie er, Jakob Burckhardt nannte ihn einen Piraten, brachten Kunde von einer großen, fruchtbaren Insel, was über Jahrhunderte Begehrlichkeiten weckte. Für die Sizilianer bedeutete das Meer daher nie Verlockung des Unbekannten, zu oft – von den Griechen bis zu den Amerikanern – hatte die Insel Feinden und Invasoren als Einfallstraße gedient. Vielmehr sei das “Gefühl von Unsicherheit” der hervorstechendste Zug der “sicilitudine”, charakterisierte Leonardo Sciascia seine Landsleute. Daher rühre nicht zuletzt das “spezielle Verhältnis” der Sizilianer zum Staat. Von Sizilien aus hatte sich die Mafia weltweit wie eine Seuche verbreitet. Auch das gehört in das psychologische Gemenge der Insulaner, eine Art Kollektivschuld, die nicht verdrängt werden will, auf die man aus Höflichkeit eher nicht direkt ansprechen sollte.

Als Wiege Europas gilt das Mittelmeer. Und kaum ein anderer Ort wie das aus kulturellen Diversitäten geformte Palermo mit seinem historischen Portfolio scheint so geeignet, akute Fragen und Probleme modellhaft zu untersuchen. In Palermo hat die Manifesta wieder ihre Kurve gekriegt. Zum 12. Mal findet die europäische Wanderbiennale statt, die sich dem Zusammenwachsen des in den 1990er Jahren noch sehr jungen europäischen Staatenverbundes aus kultureller Perspektive widmet. Die letzten beiden Ausgaben in St. Petersburg und Zürich führten in ökonomisch potente Metropolen. Opulent erschien es in St. Petersburg mitten in der Ukraine-Krise. “What people do for money” lautete zwei Jahre später in Zürich das Motto, das allerdings künstlerisch etwas verhaspelt schien und wenig kritisch beantwortet wurde. Künstler sind eben auch nicht bessere Großformat-Kuratoren, die aktuell ja von einigen gerne abgeschafft gesehen werden würden.

In Palermo heißen die Kuratoren des Teams, das sich aus unterschiedlichen Disziplinen zusammensetzt, nun Kreative Mediatoren; was ihre enormen Leistungen nicht schmälern sollte. Das sind neben dem gebürtigen Sizilianer und OMA-Partner Ippolito Pestellini Laparelli die niederländische Filmemacherin und Journalistin Bregtje van der Haak, der spanische Architekt Andrés Jaque und die Kuratorin Mirjam Varadinis vom Kunsthaus Zürich. Die haben sich erst einmal monatelang zwecks Recherche durch die Insel geackert und eine faszinierende Kartographie vorgelegt: den Palermo-Atlas.

“Einen Hang zur Anpassung an das Schlimmste, das sei das Charakteristikum der Palermitaner, die Murphys Gesetz in die Verfassung verankert hätten”; schrieb Roberto Alajmo 2006 in seinem Anti-Reiseführer “Palermo sehen und sterben”. Und er räsoniert weiter: “Palermo sei eine Stadt, in der man Spitzengespräche und Fachtagungen veranstalte, um auf die wichtigsten Fragen der Zeit die schlechteste Antwort zu finden. Wenn etwas schiefgehen kann, wird eine Delegation gebildet, eine Task force organisiert, eine Verstärkung rekrutiert; alles, was möglich ist, um nur ja sicherzustellen, dass dieses Etwas auch wirklich ein schlimmes Ende nimmt.” Dieses Trauma scheint gut zehn Jahre später überwunden. Wie ein Sirenengesang lockt nun das kultivierte Motto der “Manifesta” die Reisenden wieder in die Stadt.

Dennoch überschneiden sich viele Analysen des Palermo-Atlas mit den Beobachtungen und thematischen Ansätzen des chaosresistenten Autors und Palermitaners Alajmo. Heute kaum vorstellbar, dass das große Opernhaus und legendäre Theater Massimo, ein Hotspot der Manifesta, über Jahrzehnte nach dem Krieg geschlossen blieb; weil zunächst kein geeigneter Elektriker gefunden werden durfte; um massive Sicherheitsschäden zu beheben. “­Dass die Altstadt verrottet ist, sei einer von Korruption und Gewalt geprägten Kultur geschuldet, die einen neuen italienischen Stil ins Leben gerufen habe: den “Stilo incompiuto”, räsoniert Alajmo. Es sind nicht nur derartige Stimmen, die unter I. P. Laparellis Leitung zu einer Kartierung der Millionenstadt auf vielen Ebenen zusammengetragen wurden. Mit seinem Team führte er Hunderte von Gesprächen mit Einwohnern und identifizierte Tausende von Orten, die oft seit Jahrzehnten leer stehen. Der in einen knallrot-gummierten Umschlag gebundene Atlas steckt voller Grafiken, Karten, Bilder und Texte, die die Themenschwerpunkte der Ausstellung und auch die Auswahl der Ausstellungsorte begründen.

Zentrum und Ausstrahlungsort ist das Viertel La Kalsa, das als Metapher bzw. Modell für die gesamte Stadt gelten kann. La Kalsa wurde im Mai 1943 von den Alliierten gründlich zerbombt, eine fatale Zerstörung, denn eigentlich ging es um den Hafen. Nach dem Krieg erlitt die so oft besetzte Stadt eine erneute Plünderung; dieses Mal aus eigenen Reihen. „Sacco di Palermo“ nannte man die beispiellosen, von Korruption geprägten Boden- und Bauspekulationen. Die Trauer über das brutale Niederreißen von in üppigen Gärten gelegenen Wohnbezirken hat Vincenzo Consolo in seinem Roman “Lo Spasimo di Palermo” (1998) beschrieben. Stattdessen wurden die Bewohner aus der Altstadt in dubiose Neubausiedlungen getrieben. „Zen“ ist so ein Projekt, zu dem Exkursionen angeboten werden. Die Gruppe „Alterazioni Video“ geht den Folgen jahrzehntelanger mafiöser Baupolitik nach. Sinnfällig wird diese Verwahrlosung der Altstadt an zahlreichen Orten, fast wortwörtlich ablesbar am ehemals prachtvollen Palazzo Constatino, direkt bei den Quattro Canti, einem der Ausstellungsorte der Manifesta. Ein großer Baukran im desolat anrenovierten Gebäude ist nie entfernt worden, zu teuer wäre die Aktion. Drinnen gastiert das “Videomobile” von Mastebo, ganz in Tradition des russisch-avantgardistischen mobilen Kinos, in dem Bewohner zu Wort kommen. Gezeigt werden zudem die Fotografien des Architekten Roberto Collovà, der u.a. die gravierenden Umweltzerstörungen an toxischen Küstenabschnitten ins Bild bringt. In La Kalsa befindet sich auch das Theater Garibaldi, organisatorisches Epizentrum der Manifesta, direkt neben der riesigen Piazza Magione; allesamt Herausforderungen konservatorischer und urbanistischer Gestaltung. In diesem Mafia-geprägten Viertel wurden aber auch Falcone und Borsellino geboren, die als Kinder auf dem riesigen Feld der Piazza Magione Ball gespielt haben sollen.

Über 50 Teilnehmer agieren an 20 Orten. Hinzu kommt ein umfangreiches Programm an kollateralen Ausstellungen, in denen man sich bei den Streifzügen durch die Stadt verlieren kann. Drei Hauptthemen gliedern die Beiträge, die sich an den verschiedenen Orten immer wieder überschneiden: Zunächst die Stadt als Bühne zu zelebrieren, dann die Stadt als metaphorischen Garten zu verstehen, in dem sich aus Disparatem funktionierende Gemeinschaften bilden lassen. Der dritte Themenbereich widmet sich den unkontrollierbaren Räumen im Zeitalter der Digitalisierung, die es zu visualisieren gilt. Hier zählt die Manifesta auf Künstler, die sich auch in den beeindruckend-ruinösen Räumen des Palazzo Ajutamichristo, des Palazzo Butera oder Palazzo Forcella de Seta zu behaupten wissen. James Bridle etwa, der mit “Citizen EX” die Analyse von Staatenzugehörigkeit über die Internetzugänge visualisiert. Oder Tania Bruguera, die die sizilianische Widerstandsbewegung gegen das amerikanische Satellitenkommunikationssystem MUOS bei Niscemi nachzeichnet. Laura Poitras folgt den Signalen von MUOS, das die Kommandozentralen der US-Streitkräfte drahtlos mit ca. 18.000 militärischen Rechnern weltweit verbindet und die Lenkung und Kontrolle von Drohnen verbessern soll.

Trevor Paglen zeigt Portraits, die für Gesichtserkennungsprogramme gemacht wurden. Das Peng-Collectiv aus Berlin stellt erneut seine Telefonkabine “Call-A-Spy” zur Verfügung und bietet zahlreiche Telefonnummern von Geheimdiensten an. (Offenbar geht aber keiner ran). Ein zentrales Augenmerk gilt den Flüchtlingsströmen auf dem Mittelmeer. Forensic Oceanography verfolgt quasi live wie NGO’s und Seenot-Retter behindert und kriminalisiert werden. Erkan Özgan zeichnet – allerdings ein wenig zu distanzlos – Stimmen von traumatisierten Frauen auf, die vor der IS aus dem Nordirak geflohen sind.

Nicht alles möchte man für schwarz auf weiß nehmen, was der kämpferische und kulturpassionierte Bürgermeister und Autor Leoluca Orlando so leidenschaftlich verfechtet; nicht zuletzt während der Pressekonferenz in der prachtvollen Barockkirche Santa Caterina. Und doch ist es da: Palermo ist ihm Modell einer sich neu erfindenden Stadt, in der friedliche Koexistenz fortgeschrieben werden soll. Immer wieder hat der mehrfach amtierende Antimafia-Bürgermeister von Palermo dafür gekämpft. Begeistert hat er sich auch für die Manifesta stark gemacht und ihr viele Optionen ermöglicht. Nun kann er sich selber Impulse erhoffen. Das ist aktuell politisch überlebenswichtig. Mit seinem Slogan „Io sono persona“ als Charter für Palermo, das die Freiheit auf Mobilität als Menschenrecht bezeichnet, hat er sich international positioniert. Doch sind viele Probleme zu lösen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Armut weiterhin groß. Während viele Sizilianer die Insel verlassen, kommen täglich neue Migranten auf die Insel.

Man kann sich nicht sattsehen in der Stadt, in der nicht nur im Botanischen Garten alles zu wachsen und zu wuchern scheint und in der die Manifesta lediglich “urbane Akupunktur” leisten möchte. Das gelingt ihr mit den zahlreichen Schnittstellen von Kunst, Botanik, Gestaltung und Forschung. Fast wie im Traum wandelt man in der Mittagshitze durch den Orto Botanico, wo fremde Spezien herrschen. Irritierend vor allem die Installation von Michael Wang vor einem stillgelegten Gasometer. Inmitten eines toxischen Ambientes überleben dort resistente Pflanzen. Unweit zeigt Wang einen giftigen Brunnen, voller Mikroben, die das verseuchte Surrogat seit Urzeiten kennen.

Kaum einer der Beiträge der eingeladenen Künstler enttäuscht; auch nicht nach langen Fußmärschen, um sie zu finden. Meist wurden kongeniale Orte für ihre Werke gefunden. Christina Lucas’ dreiteilige Videoinstallation “Unending Lightning” (2015 – heute) etwa, zu sehen in der militärisch aufgeheizten, rationalistischen Mussolini-Architektur “Casa de Mutilato”. Mit immensen Rechercheaufwand protokolliert sie alle Bombenabwürfe seit 1912 mit Bildern und Grafiken. Im temporär öffentlich zugänglichen Staatsarchiv, ein altes Franziskanerkloster, stapeln sich dem Zerfall überlassene, nur von Schnüren zusammengehaltene Aktenstöße. Es sind Dokumente mehrerer Jahrhunderte, deren Inhalte verborgen bleiben. Eher aus Zufall wurde eine Akte gefunden, die belegt, unter welcher Beobachtung italienische Künstler und Schriftsteller in den 1950er Jahren standen, darunter der Filmemacher Vittorio De Seta, dem man kommunistische Subversion unterstellte. Dazu entwickelte das Filmkollektiv Masbedo eine ikonische Videoarbeit, die eine hölzerne Marionette zeigt. Die Skulptur, die unter kontrollierten Bewegungen agiert, steht hier nicht etwa für den Namensvetter Pinocchio als Metapher im Zeitalter der Fake News; sondern für den nichtgehörten Künstler.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Je länger man durch die Stadt zieht, umso mehr ist man auch mit den Möglichkeiten der aktuell heftig attackierten engagierten Kunst befriedet. Auch wenn der Palermitaner an einer fast heiligen Scheu vor Vollendung leidet, die Stadt wäre ein Ort, wo Kultur, wo experimentelle Kunst und Gestaltung eine Zukunft hätte.

Published in: Artist Kunstmagazin, Bremen, Nr. 116, 2018, S. 40f.

Theorien der Videokunst

Arrived in May….

In this nice reader about Theory of Videoart you find my essay:

Sabine Maria Schmidt: “Von der Lust und Last an Dauer und Sprechen. Anmerkungen zur aktuellen Videokunst”, in: Theorie der Videokunst. Theoretikerinnen 2004–2018, hrsg. von Slavko Kacunko, Yvonne Spielmann und Marcel Odenbach, Berlin 2018, S. 255 – 262

Danica Dakic Neue Monographie

 

NOT GUILTY OF THIS CRIME

Happy to be part of the new monography of Danica Dakic with a bigger essay in german and engl…., just edited by Verlag für Moderne Kunst, 2018….

Catch a first look into the introduction of my text…

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Back from the very inspiring EMAF-Festival…in Osnabrück

 

Together with F. Reimer…., checking the exhibition…(Foto: Angela vom Brill)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Reading On Kawara – One Million Years

 

 

Reading On Kawara – One Million Years

12./13.03.2018

Kunsthalle Düsseldorf

Together with MarkusAmbach

A great project of KunsthalleDüsseldorf and KonradFischerGallery…, Thanks to ThomasRieger (the soul of this project) and GregorJansen (the other soul….) and thanks to DorisKrystof who sent the photo…